Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig. Bei jedem Schritt ein Atemzug und bei jedem Atemzug ein Besenstrich.
Schritt - Atemzug -
Besenstrich. Schritt - Atemzug - Besenstrich.
'Siehst Du, Momo', sagte er, 'es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße
vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang, die kann man niemals schaffen,
denkt man.'
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: 'Und dann
fängt man an sich zu
eilen. Und man eilt sich
immer mehr. Jedes mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger
wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es
mit der Angst zu tun, und zum Schluss ist man ganz aus der Puste und kann nicht
mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen!'
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: 'Man darf nie an die ganze
Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt
denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den
nächsten.'
(Straßenfeger Beppo in Momo)
So ist es auch mit dem langen Weg der Trauer. Unendlich lag erschien er mir vor sieben Jahren. Wie soll ich das schaffen ohne Sascha haben ich gedacht? Wie damit leben? Ja ich lebe noch. Schwer waren die ersten Schritte, aber Stück für Stück habe ich schon viel Wegstrecke geschafft, Atemzug für Atemzug und so wird es gehen bis zum letzten.
Es ist anders geworden, aber auch nach so vielen Jahren ist
sie noch da, die Trauer und Sascha fehlt mir unendlich. Die Wunde scheint geheilt, aber ein Geruch, eine Musik,
ein Gedanke, eine Geschichte, ein Bild, ein Gefühl und schon ist er wieder da
dieser Schmerz. Es ist wie eine Amputation, es fehlt ein Teil von mir.
Das, was dir amputiert wurde, das wird dir immer fehlen. Du kannst den fehlenden
Körperteil niemals ersetzen, aber du kannst damit leben lernen, auch mit dem
Phantomschmerz, der manchmal mehr und manchmal weniger da ist.
Zeit heilt nicht alle Wunden, sie lehrt uns nur mit dem Unbegreiflichen und dem Schmerz zu leben.
Was ist eigentlich Zeit?
Zeit ist etwas Unfassbares, etwas sehr Subjektives und nur im eigenen Erleben erfahrbar. Was für den einen einer langen Zeit entspricht, ist für den anderen eben ein Wimpernschlag.
Nicht alle Schmerzen sind
heilbar, denn manche schleichen
Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,
Und während Tage und Jahre verstreichen,
Werden sie Stein.
Du sprichst und lachst, wie
wenn nichts wäre,
Sie scheinen zerronnen wie Schaum.
Doch du spürst ihre lastende Schwere
Bis in den Traum.
Der Frühling kommt wieder
mit Wärme und Helle,
Die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
Da blüht nichts mehr.
Ricarda Huch
Will ich ihn überhaupt ganz loswerden diesen Schmerz? Er gibt mir doch auch das Gefühl von Nähe zu Sascha. Die Zeit läuft und läuft und entfernt mich immer mehr von dem gemeinsamen Erleben mit Sascha. Was mir geblieben ist, ist die Erinnerung, die tut gut, aber sie schmerzt eben auch. Anfangs hatte ich das Gefühl an diesem Schmerz zu zerbrechen, aber heute habe ich gelernt damit umzugehen, jedenfalls meistens. Schmerz lässt mich meine Trauer spüren und die wird häufig vom Alltagsgeschehen verdrängt. Mit dem Schmerz spüre ich mich selbst. Für nicht Betroffene ist das sicherlich schwer zu verstehen.
Denn die Zeit heilt nicht. Sie tröstet nicht. Sie bestätigt nur immer aufs neue,
dass der Verlust unheilbar und dass Trost zumeist kein Trost ist. Nichts wird abgelegt oder überwunden oder gar vergessen.
Wichtig bleibt, was der Zeit gerade entgegenläuft, das Erinnern und das immer neue Erinnern.
Und gefährlich für das Leben der eigenen Seele ist
alles, was Abstand nehmen heißt, Verdrängen oder Vergessen."
Jörg Zink
Wieder ist so vieles passiert in diesem siebten Jahr unseres neuen Lebens. Der Januar 2009 hat uns gezeigt wie nahe Tod und Leben beieinander liegen. Am 26ten sind wir Großeltern geworden, der kleine Luca ist geboren. Er hat neben den Schatten so viel Sonnenschein in unser Leben gebracht und bereitet uns viel Freunde. Wenn ich die stolzen Onkels Mirko und Niklas sehe, kommt schon manchmal der traurige Gedanke, dass er seinen Onkel Sascha nie kennen lernen wird.
Es hat sich aber auch mal wieder gezeigt, wie schnell unsere scheinbar heile Welt zu erschüttern ist. Im Rahmen der Musterung wurde Niklas aufgrund der Familiengeschichte zum Kardiologen geschickt. Das Ergebnis war für uns alle ein Schock: zu großes Herz, mangelnde Pumpleistung und Gefahr des plötzlichen Herztods. Er sollte jegliche Anstrengung vermeiden. Alles war mit einem Mal wieder da. Tage voll Angst und Tränen. Ich wollte es aber nicht akzeptieren, bestand auf einer zweiten Meinung und rief einen Bekannten an, der Kardiologe ist und unsere Geschichte gut kennt. Er hat schnell einen Ultraschalltermin gemacht und mit Kollegen festgestellt, dass es eine Fehldiagnose war. Niklas hat zwar als Sportler ein großes Herz, aber ohne Beeinträchtigung. Zur endgültigen Beruhigung wurden in der Röhre Schichtaufnahmen des Herzmuskels gemacht, zu unserer großen Erleichterung alles ohne Befund. Nach schon zwei OP’s bei den Jungs zu Beginn des Jahres war ich mit meinen Nerven ziemlich am Ende. Aber es war noch nicht genug. Kurz darauf kam meine Mutter mit Verdacht auf Schlaganfall ins Krankenhaus. Nach einer Gefäßerweiterung geht es ihr einigermaßen gut. Herzgeräusche bei dem kleinen Luca kommen Gott sei Dank nur von einer zusätzlichen Sehne. Niklas kuriert noch die Folgen seiner Kreuzbandoperation.
So ist das Leben kann man da sagen, aber wir sind eben vorbelastet. Ich will doch einfach mal zur Ruhe kommen. Wo bleibt bei all dem denn noch Raum für meine Trauer und auch wenn es vielleicht schwer zu verstehen ist, ich brauche diesen Raum, Zeit Sascha zu spüren.
Trauer
kann man nicht überwinden
wie einen Feind
Trauer kann man nur verwandeln:
den Schmerz in Hoffnung
die Hoffnung in tiefes Leben
Sascha Wagner
Meine Trauer und auch der Schmerz gehören nach sieben Jahren zu mir genauso wie die Freude und das Lachen.
Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit
eines lieben Menschen ersetzen kann;
und man soll es auch gar nicht versuchen,
man muss es einfach aushalten
und durchhalten. Das klingt zunächst
sehr hart, aber es ist doch zugleich
ein großer Trost, denn indem die Lücke
wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man
durch sie miteinander verbunden.
Je schöner und voller die Erinnerungen,
desto schwerer die Trennung.
Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual
der Erinnerung in eine stille Freude.
Man trägt das vergangene Schöne nicht mehr wie einen Stachel,
sondern wie ein
kostbares Geschenk in sich.
Dietrich
Bonhoeffer